IT from BIT
Michael Seibel • Allmachtsphantasie und Digitalisierung (Last Update: 21.10.2019)
Muss nicht am Ende jemand wie wir, der einen unendlichen Datenabdruck hinterlässt, auch unendlich mächtig sein?
Ich möchte Exegese am Text eines interessanten Radio-Essays betreiben, den der Deutschlandfunk im Sommer 2019 erneut augestrahlt hat, den Weyh, wie er mir schreibt, jedoch schon vor vier Jahren verfasst hat.1
Er hat darin versucht, in der rasanten Entwicklung der Digitalisierung der Wirklichkeit eine problematische parallele Entwicklung des Denkens, eine schleichende, aber dennoch grundlegende Veränderung unseres Welt- und Selbstverhältnisses zu erkennen und pointiert zu beschreiben. Der Essay hat den Vorteil, einige Hauptargumente, die man in der gegenwärtigen Diskussion um die Digitalisierung häufig hört, sicher stark verkürzt und sicher auch überspitzt an einem Ort zu versammeln.
Der Essay kulminiert in der bizarren, durchaus ratlosen Alternative „Umarmen wir das Unvermeidliche! Oder schalten wir den Strom ab.“ Es geht Wehy offenbar um eine Zuspitzung.
Da ist zunächst der Hinweis auf John Archibald Wheelers einprägsame Formel:
„It from bit.“ Seiendes – „it“ – resultiere aus einem Informationsvorgang: „bit“. „Jedes Sein – jedes Teilchen, jedes Kraftfeld, selbst das Raumzeit-Kontinuum an sich – leitet seine Funktion, seine Bedeutung, ja seine nackte Existenz völlig, wenn auch in manchen Kontexten indirekt, aus den geräteinduzierten Antworten auf Ja- oder-Nein-Fragen ab, aus einer binären Auswahl, aus Bits.“
Und weiter:
„Information kann nicht nur das sein, was wir über die Welt ‚lernen’. Sie kann das sein, was die Welt ‚macht‘. [...] Wenn ein Photon absorbiert und dadurch ‚gemessen’ wird – bis zu seiner Absorption hat es keine Wirklichkeit –, wird ein unteilbares Informations-Bit zu dem hinzugefügt, was wir über die Welt wissen, und gleichzeitig determiniert das Informations-Bit die Struktur eines kleinen Teils der Welt. Es ‚schafft‘ die Realität von Zeit und Raum dieses Photons“.
Hier wird offenbar ein Universalienproblem aufgemacht. Frage ist wie schon oft in der Philosophiegeschichte, ob Allgemeinbegriffen eine ontologische Existenz zugesprochen werden kann, wie die semantischen Realisten sagen. Gibt es das Gute oder in diesem Fall gibt es die Information? Oder sind Allgemeinbegriffe lediglich mehr oder weniger wirkungslose verstandesmäßige Begriffsbildungen, wie Nominalisten sagen, mit denen das Denken die Mannigfaltigkeit der Einzeldinge lediglich ordnet, aber nicht genuin erzeugt.
Um die Formel „It from bit.“ genau so beunruhigend zu finden wie Weyh das offenbar tut, muss man zunächst als Nominalist ausschließen, dass Ideen materielle Wirkung haben können. Dann aber muss man instantan in einen Begriffsrealisten mutieren, um die soeben noch ausgeschlossene Wirkung dennoch zuzulassen. Gleichzeitig muss man aber ein unverbrüchlicher Nominalist bleiben, um sich über die soeben zugestandene Wirkung aufzuregen, ohne sie jedoch reflexartig als Unmöglichkeit abzulehnen. Man sieht, das ist ein durchaus schizoides Geschäft, das zu ganz seltsamen Assoziationen führt wie der, dass das Brot Fleisch geworden ist durch nichts als das Wort (sprich: die Information). Religiös geht so etwas. Und die Moderne wird immer ganz hellhörig, wenn Universalienprobleme auf den Tisch kommen, denn dann ist meist religiöses Denken nicht weit.
Physis, Wechselwirkung und Information
Ein Hinweis auf die Quantentheorie kann weiterhelfen, denn da wird mit Grund seit nunmehr 100 Jahren in einer empirisch extrem gut beglaubigten Theorie gedacht, dass auf der Ebene von Elementarteilchen deren raumzeitliche Existenz in der Tat erst durch die Messung, bzw. richtiger gesagt durch Wechselwirkung zustande kommt. Das scheint in der Tat den Verhältnissen im sichtbaren Bereich zu widersprechen, in dem ja nur gemessen werden kann, was schon existiert. Nur ist das letztlich kein Widerspruch. Das Newtonsche Universum ist und bleibt auch in dieser Hinsicht ein Spezialfall des Planckschen Universums, denn die sichtbare Welt ist nun einmal eine Welt, in der schlicht nichts frei ist von Wechselwirkungen, anders gesagt, die Dinge sind in der Welt Newtons durchgehend raum-zeitlich bestimmt, weil sie immer schon untereinander wechselwirken. Anders gesagt: jedes Teilchen ist gleichsam immer schon gemessen von all den anderen Teilchen, mit denen es wechselwirkt. Was man daran allerdings auch sieht ist, dass keineswegs jede Wechselwirkung auch gleich unmittelbar eine Information im Sinne einer Messung ist. Es ist eben ein Unterschied, welche Wechselwirkungen überhaupt stattfinden und welche wirklich gemessen und von Informationssystemen weiterverarbeitet werden. Die Mannigfaltigkeit möglicher Wechselwirkungen ist schlechterdings selbst nicht digitalisierbar. Die größte verarbeitbare Speicherungsdichte von Information dürfte nicht mit siliciumbasierter digitaler, sondern mit genetischer Information erreicht sein, wo mit 4 Nukleotiden (bestehend jeweils aus Nukleobase + Pentose + Phosphatgruppe, also zusammen mindestens ca. 30x4 Atomen) die Speicherung von 2 Bit realisiert ist.2 Wenn „It gleich Bit“ zutreffend wäre, müssten diese über 100 Atome nicht nur 2 Bit aufzeichnen, sondern die unabzählbare Mannigfaltigkeit der Wechselwirkungen, die zwischen ihnen und ihrer gesamten Umgebung stattfindet. „It gleich Bit“ ist strend genommen Unsinn.
Aber beide Aspekte, Wechselwirkung und Information, verwechselt Weyh im weiteren Verlauf seiner Argumentation bedenkenlos, wenn er ausführt: „Was wir auch tun, es wird längst mehr von Informationsvorgängen als von physischen Kräften bestimmt“. Er hat eben nur ein Wort für beides. So süffig die Aussage ist, man sieht, wie tautologisch sie sofort wird, wenn man Wechselwirkung an die Stelle von Information einsetzt. Wenn man statt dessen Informationen im Sinne von Messungen versteht, die in Kommunikation einfließen und eben durchaus nicht jede Wechselwirkung auch gleich als Information deklariert, dann wird die Aussage falsch, denn selbstverständlich wird „Was wir auch tun“ nach wie vor ganz entschieden von „physischen Kräften bestimmt“. Und wir dürfen sicher sein, dass das so bleibt. Denn trivialerweise ist niemand vor dem Scheitern sicher. Schlichtweg jede Praxis unterliegt materiellen Bedingungen, die gegeben sein können oder eben nicht. Daran dürfte sich bis ans Ende aller Tage auch nichts ändern.
Information phantastisch verklärt
'Alles kommt aus Information, alles wird zu Information, alles ist Information', das stimmt im Umgang von Elementarteilchen miteinander, aber ist im menschlichen Verkehr untereinander und mit der Natur eine – allerdings ausgesprochen interessante – Phantasie.
Und genau dahin, auf das Spielfeld dieser Phantasie, oder zumindest einer extremen Reduktion, hat uns Weyh geführt. Das freilich soll kein Gegenargument sein gegen alles, was folgt. Denn nur schon, dass es sich bei etwas um eine Phantasie handelt, heißt ja nicht, dass es individuell und kollektiv unwirksam ist.
Weyh weiter:
„Damit wäre dann die Erste Aufklärung – die des 18. bis 20. Jahrhunderts – fragwürdig geworden, denn sie basierte auf dem umgekehrten Prinzip: Als sie den Menschen vom unreflektierten Glauben emanzipierte, stellte sie die intellektuellen Verhältnisse von Metaphysik auf Physik um, von Glauben auf Denken, Schlussfolgern, Rationalität. Das aber war: „bit from it.“
Das ist von Weyh wieder stark vergröbert formuliert, so als hätte ein Augustinus nur geglaubt und nicht gedacht. Im Gegenteil war er ein Meister des strengen Schlussfolgerns. Und schaut man andererseits auf die Moderne, dann ist Kant auch nicht gerade Empirist. Sei's drum. Aber soviel stimmt natürlich, man begreift die Welt nicht mehr, indem man sich auf die Offenbarung der Evangelien verlässt, sondern
„ indem man ihr Informationen abringt. Wissenschaft und Technik, Gesellschaft und Politik funktionieren nach Regeln und Heuristiken, die sich in der physischen Welt bewährt und als wahrheitsfähig erwiesen haben“.
Jetzt die Volte:
„Doch wenn die Welt andersherum funktioniert, wenn sie im digitalen Universum erneut aus Informationen ersteht, dann muss man sich fragen, was von den Regeln und Heuristiken der Ersten Aufklärung noch vernunftgemäß ist.“
Tut sie aber nicht! Was andersherum funktioniert, ist eine Phantasie weltkonstituierender Ordnung, wie sie im religiösen Denken auch gepflegt wurde, nur diesmal ohne Gottesvorstellung. Aber wenn Information alles ist und wenn es keinen Mangel an Information gibt, wozu sollte man dann auch noch eine Gottesvorstellung brauchen? Früher hätte man solch eine Vorstellung Pantheismus genannt, wenn darin auch nur die geringste konstutuierende oder ordnende Wirkung mitgedacht wäre.
In der Tat muss man angesichts einer solch phantastischen Ermächtigung der Datenspuren – und da sind wir wieder ganz bei Weyh – die vier Kantischen Fragen neu stellen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“
Weyh sieht uns „in der Entfaltungsphase einer neuen Epoche“ und spricht beim neuerlichen Durchgang durch die vier Kantischen Fragen von einer „zweiten Aufklärung“.
„Was kann ich wissen?“ - Gewissheit
Erste Frage: „Was kann ich wissen?“ Weyh baut nun ein Gedankenexperiment auf.
Weyh: „Mitte des 21. Jahrhunderts ist alles komplett durchdigitalisiert. Jeder Vorgang, im Kleinsten wie im Größten, wird in einer Sphäre der Information gespiegelt, gespeichert und zugänglich gemacht sein. Das gilt für Individuen wie für gesellschaftliche Vorgänge, für Biologisches wie für Physikalisches, für Kunst wie für Recht – für schlichtweg alles. Dafür sorgen eine Armee an elektronischen Arbeitssklaven, Sensoren jeder Art und Hybridschnittstellen zwischen organischer und anorganischer Welt. Um unsere Fragestellung noch zuzuspitzen, gilt das auch für den Bereich der Gedanken, die sich aus dem neuronalen Strom auslesen lassen. 2050 ist die Antwort damit eindeutig: „Was kann ich wissen?“ – Alles.“
Moment, Moment! Was soll das heißen, dieses 'Alles'? Na, er sagt es ja: alles, was sich mittel Sensorik und digitaler Technik aufzeichnen lässt und was – darin liegt der Clou, - mehr oder weniger gleichbedeutend mit der Summe dessen ist, was Individuen und Kollektive historisch gerade für bedeutsam halten. Dieses Alles ist jedoch sicher nicht die Mannigfaltigkeit der Wechselwirkungen im Universum, also das All möglicher Wechselwirkung, sondern nur ein gemessen daran klitzekleiner Ausschnitt daraus. Dieser immer noch gigantische Miniaturausschnitt hat nun allerdings den Charakter, alles oder doch fast alles zu sein, was uns gerade interessiert, anders gesagt, was in unseren Diskursen vorkommt. Offenbar eine ziemlich selbstbezügliche Angelegenheit. So verstanden und nur so verstanden – hat Weyh recht, wenn er behauptet: „Was kann ich wissen? (…) Alles. Man ist im Wissen. Wer im Wissen ist, erwirbt keines mehr“.
… und wenn er folgert:
„überkommene Eigentumsmetaphern büßen ihren Sinn ein. Wenn überhaupt, sind die Eigentumsverhältnisse jetzt umgekehrt: Dem Wissen gehört der Mensch, jene menschlichen Daten nämlich, die er zuliefert, damit Wissen überhaupt entsteht.“
Wenn und solange es keinen Mangel an Information gibt, solange Information kein knappes Gut ist, machen z.B Urheberschutzfragen keinen Sinn, sondern stellen, wie Michael Seemann bemerkt3, auf den sich Weyh wiederholt bezieht, eine künstliche Verknappung dar, die nicht zu rechtfertigen ist. Aber wie gesagt auch nur unter Bedingung, dass Information kein knappes Gut ist. Das ist aber zunächst mal bloß eine Behauptung.
Was würde diese Metapher denn heißen, die da sagt: Wir alle sind im Wissen? Sie würde das Ende jeglicher Ungewissheit vorstellen, ein Thema, das Shoshana Zuboff bereits zentral angesprochen hat.4
Für Zuboff ist das der Inbegriff einer Horrorvorstellung, weil sie die Essenz menschlicher Freiheit darin sieht, mit Ungewissheit umgehen zu können, sich trotz Ungewissheit auf Ziele zu verpflichten.
Weyh zerlegt die Kantische Frage nach dem Wissen ihrerseits in vier Teilfragen, deren erste („WAS kann ich wissen?“) er bereits mit „Alles“ beantwortet hat.
„Nur vereinzelt erleben Menschen seelische Phänomene, die an den Hybridschnittstellen zwischen organischem Nervensystem und Rechennetz nicht ausgelesen werden können. Sie sind statistisch unbedeutend.“
Alles ist seiner Meinung nach dokumentierbar. Es gibt in seiner Sicht kein seelisches Innenleben, kein Privatissimum des Individuums, das dem auf die Dauer entgehen kann. Aber hier sehen wir es wieder: Es ist letztlich nicht Information über die Welt, um die es geht, sondern Information darüber, was die Menschen umtreibt. Es ist die Phantasie der vollständigen Einschätzbarkeit aller für alle.
Das grundsätzliche Begehren nach Einschätzbarkeit treibt uns nicht erst seit gestern um. Es ist an sich nichts Neues. Es gäbe wahrscheinlich keine einzige soziale Gruppe, in die wir uns ohne Not hineinbegeben, ohne das Bedürfnis, sich in einem abgesicherten Raum aufzuhalten, in dem andere Menschen für uns einschätzbar sind. Das führt aber normalerweise gerade nicht so weit, dass wir die vollständige Einschätzbarkeit aller für alle anstreben. Einem derart langweiligen Club, in dem schlechterdings nichts Neues und Überraschendes passieren kann, würden wir alsbald den Rücken kehren. Er würde uns zu Tode langweilen.
Die Formel „Wir leben im Wissen“, ist so etwas wie die Ruhe im Auge des Sturms zwischen Langeweile und Paranoia. Beschreibt das den Menschen als Selbstdarsteller in der Facebook-, WhatsApp- und Instergram-Welt? An sich eine naheliegende Idee, sich im windstillen Auge des Orkans ständig selbst zu fotographieren. Aber hat diese ständige Selbstverdopplung in der Abbildung irgendetwas mit dem Austausch von Information zu tun? Wenn, dann als ein ständiges Sich-dem-anderen-Bekanntmachen, um ihn nicht aus dem Im-Wissen-Sein herausfallen zu lassen und um nicht selbst aus der Oberfläche der Langeweile ins soziale Nichts abzurutschen.
Rudimentäre Systhemtheorie
Aber vielleicht geht es gar nicht um derlei subjektive Befindlichkeiten. Vielleicht ist im Zeitalter fortgeschrittener Digitalisierung Gewissheit wirklich erreichbar. Dann fragt sich allerdings, für wen. Das kann dann nicht das Individuum sein, sondern ein irgendwie geartetes Wir oder jedenfalls eine Instanz, die für die Herstellung sozialer Ordnung zuständig ist. Eigenartig ist dann allerdings, dass diese Instanz, falls es sich nicht um konkrete Individuen handelt, phantasiebegabt sein soll, denn irgend etwas macht auch für sie die Herstellung von Gewissheit oder das Sein in Gewissheit attraktiv. Das ist systemtheoretisch ziemlich interessant. Von Systemen, welcher Art auch immer zu behaupten, es gehe ihnen um ihren eigenen Erhalt, ist eine Teleologie-Unterstellung, ein hochgradig rätselhaftes und fast schon wieder quasireligiöses Gerede. Die Aussage, ein System erhalte sich selbst, kann nur für einen äußeren Beobachter sinnvoll sein, der dabei ist, ein System in seiner zeitlichen Entwicklung zu beschreiben. Der Pionier der Systemtheorie Humberto R. Maturana illustriert den Minimalfall autopoietischer Selbstorganisation eines sich selbst erhaltenden Systems an einem äußerst simplen zweidimensionalen Computermodell.5 Es braucht nicht mehr als ein Substrat, was auch immer, das nichts weiter können muss, als zwei Eigenschaften zu tragen, nämlich 1. die Fähigkeit, sich mit seinesgleichen zu verketten und dann auch 2. wieder die Neigung dass die möglicherweise entstehenden Ketten gelegentlich und ganz zufällig an einzelnen Stellen zerbrechen. Was jetzt fehlt, ist ein Katalysator, der in der Lage ist, die erste dieser beiden Eigenschaften anzuregen und ein Algorithmus, der diese Ursuppe gleichsam laufend umrührt. Was herauskommt ist ein rudimentäres System, d.h. nach außen durch Substrat abgegrenzte, geschlossene Innenräume, die gelegentlich brechen, aber immer wieder katalytisch repariert werden.
Offenbar ist das ein System. Offenbar ist es diesem System völlig egal, ob es sich erhält oder nicht. Offenbar ist dies System in keinster Weise lernfähig, denn der Algorithmus verhält sich immer gleich. Offenbar hat dies System auch kein Wissen von sich und ist mithin nicht auf Information angewiesen, obwohl es sich informationstheoretisch problemlos präzise beschreiben lässt. Dies wäre eine Beschreibung, die das Sein des Systems vom Algorithmus abhängig macht, also mit Weeler „It from Bit“. Aber dieses „It from Bit“ ist letztlich nur insofern eine Systemeigenschaft, sofern es mit Mitteln der Informatik beschrieben und im Fall dieses simplen Computermodells sogar erzeugt wird. Bei biologischen Systemen funktioniert das schon nicht mehr, da ist sofort klar, dass der Gencode, mit dem sie sich reproduzieren, den Wechselwirkungsumfang nicht beschreibt, aus dem das Leben elementarerweise besteht.
Dem entnehme ich folgendes:
Wenn im Zeitalter fortgeschrittener Digitalisierung so etwas wie Gewissheit wirklich erreichbar wäre und zwar nicht für die Menschen, sondern für irgendwelche kollektiven Instanzen oder Algorithmen, dann kann das nur heißen, dass diese keinerlei Eventualitäten im Stoffwechsel mit ihrer Umwelt ausgesetzt wären, sondern in eine sich selbst erhaltende Endlosschleife übergegangen wären. Das ist nichts weiter als der altbekannte Gedanke vom Ende der Geschichte. Nebenbei bemerkt: Wäre dieser Gedanke auch nur eine einzige Sekunde lang richtig, dann wäre das Ende der Geschichte immer schon eingetreten, denn das Problem, ob ein System erhalten bleibt oder durch ein anderes ersetzt wird, ist nicht für das System, sondern ausschließlich für seinen Betrachter ein Problem von Wiederholung und Veränderung, ein Problem des Werdens, den wahrscheinlich ältesten Problem der Philosophie überhaupt. Aber wer, wenn nicht Menschen beobachtet da? Gewissheitsphantasie auf dieser Ebene würde heißen, einfach nicht mehr hinzuschauen und die Beobachterrolle an Algorithmen abzutreten. Besteht diese Gefahr? Unter der Bedingung könnte man dann allerdings zu der Überzeugung gelangen, mitten im Wissen zu sein.
the needle in the haystack
Weyhs nächste Frage: Was KANN ich wissen? Hier stellt er uns gleichsam voll von Ehrfurcht vor die Masse erhebbarer Daten. „Dass alles zugänglich ist, heißt ja nicht, dass es auch geistig verarbeitbar wäre.“ Stimmt! Was man abgeschrieben hat, muss man noch lange nicht verstanden haben. Das kennt jeder aus seiner Schulzeit. Aber Vorsicht! Nicht die erhobenen Daten sind komplex, sondern möglicherweise die irdischen Verhältnisse, die sie – möglicherweise ausgesprochen mittelbar und verdeckt – abbilden. Digitaldaten können nicht komplex sein. Sie bestehen aus 1 und 0, auch dann, wenn es noch so viele sind. Sie sind ja gerade der kleinst mögliche Unterschied, der sich überhaupt machen lässt. Aber: Where is the needle in the haystack? Sie zu finden ist übrigens nicht deshalb überfordernd, weil die Aufgabe besonders komplex ist, sondern weil sie extrem simpel, aber geradezu unendlich langwierig ist. Verwechseln wir also nicht Komplexität und Rechenaufwand. Komplex sind Situationen, die zwar eine Reihe charakterisierender Eigenschaften zeigen, aber beim Versuch, mit ihnen erfolgreich umzugehen, keine vereinfachenden Abstraktionen zulassen. Und sie sind solange komplex, wie sie sich verweigern. Gesichtserkennung ist ein Beispiel für eine höchst komplexe Aufgabe für einen Algorithmus, aber eine recht einfache für ein kleines Kind. Mit Komplexität umgehen heißt mit Ungewissheiten umgehen. Das Wort Komplexität sollte keinen heiligen Schauer auslösen. Aber letztlich fasst Weyh das Thema Komplexität auch gar nicht an, sondern bleibt bei der needle in the haystack, bei brachialer Rechenleistung, wenn er völlig zurecht konventionelles wissenschaftliches Arbeiten wie in Doktorarbeiten und Habilitationen aufs Korn nimmt, solange es dort in erster Linie um ein Finden und weniger um die Neuinterpretation des Gefundenen geht. Und das pure Finden können Computerprogramme inzwischen besser. Mit der puren Findeleistung ist kein Staat mehr zu machen. Das ist richtig. Aber dass, wie Heyh polemisch sagt, „der Geist (...) sich von Vorgekautem“ ernährt, spricht nicht gegen den Geist. Gelingt es ihm doch mitunter, das Vorgekaute auch zu verdauen. Denken „transzendiert die Positivität des Gegebenen“, auch wenn das Weyh nicht länger imponiert. Zutreffend ist sicher, dass „die Denker der Ersten Aufklärung in einem derart engen Korsett an Wissensreferenzen“ steckten, und sich an ein Zitationssystem gebunden sahen, welches wissenschaftspolitisch und damit ganz anders als heutige Suchanfragen, sog. Queries, darüber befindet, was ein für allemal vergessen und was tradiert wird. Das hat sich mit heutigen Queries weniger verändert, als Weyh suggeriert. Es stimmt, dass das Internet nichts so ohne weiteres vergisst und Queries extrem viel wiederfinden auch verfemtes, aber dies muss sich dann auch erst durch die Flaschenhälse der kuratierten wissenschaftlichen Zeitschriften zwängen, bevor es die Chance auf Geltung bekommt.
Was macht Wissen zu Wissen?
Weyhs nächste Frage: Wie weiß ich, dass das, was ich für Wissen halte, wirkliches Wissen ist?
Auch hier muss man bei seiner Antwort erheblich nachschärfen. Weyh erklärt mit Hinweis auf Seemann, der seinerseits auf Luhmann rekurriert, es gehe um Anschlussfähigkeit.
„Die Trias Daten, Information und Wissen lässt sich so zusammenfassen: Informationen sind Daten, die an ein Wissen anschlussfähig sind.“
Das heißt zunächst nur, dass eine Aussage, die auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft wird, mit allen anderen Aussagen vereinbar sein muss, die der Prüfende für wahr hält. Und das das nicht davon abhängt, ob der Prüfende einen bestimmte Person oder eine Institution, ein Amt oder ein Gericht oder das Zentralkomitee einer Partei oder der deutschen Katholiken ist. Eine neue Aussage muß einfach mit dem Set der bereits etablierten Aussagen konsistent sein, was für ein Set auch immer das ist und das ist bei der chinesischen KP natürlich ein anderes als bei der katholischen Kirche oder bei Peter Mustermann. Diese Konsistenzprüfung hat zunächst mit der Digitalisierung nichts zu tun. Weyh schreibt aber:
„zugleich bedeutet „digital“ immer auch 'grenzenlos'. Es gibt nur noch Wahrheitsvereinbarungen mit mäßiger gesellschaftlicher Bindungskraft: Wem eine Vereinbarung nicht passt, der wählt eine andere.“
Auch das ist anders, als Weyh denkt, absolut nichts Neues. Ganz im Gegenteil. Es war immer schon so. Die Frage war und ist immer, wie weit man mit abweichenden Ansichten kommt. Wenn sich heute durch das Internet etwas geändert hat, dann dass man es heute dort wesentlich leichter hat, andere Deppen zu finden, die zustimmen. Früher war das nur ganz gelegentlich der Fall wie in Europas Sektenhauptstadt Wuppertal. Allerdings trifft Weyhs Hinweis dann auch wieder zu, dass „Wissen als Orientierungsmacht nur dort existiert, wo Institutionen für abgesicherte Informationsfelder sorgen, und Unwissen beherzt ausgegrenzt wird.“ Solche Institutionen fehlen im Internet bisher weitestgehend.
Evidenzbasis – Daten statt Erfahrung
Wehys Hinweis auf Alexander Pschera ist mir hingegen unverständlich: „
Woran es den politischen Entscheidungen heute am meisten fehlt, ist eine belastbare Evidenzbasis für historische und soziale Zusammenhänge.“
Warum sollte die heute mehr fehlen als zu anderen Zeiten? Was wäre überhaupt eine Evidenzbasis? Ja doch wohl eine gemeinsame Erfahrungsbasis derjenigen, die urteilen. Wodurch wird so etwas gleich? Zum Beispiel durch Kriegserfahrungen, wenn gleich drei Generationen die Erfahrung des zweiten Weltkriegs gemacht haben, würde ich denken. Und wodurch wird sie ungleich? Zum Beispiel dadurch, dass Menschen in einer Gesellschaft leben, in der sie unvereinbare Erfahrungen machen, je nachdem, zu welcher sozialen Klasse sie gehören und welcher Bildungsschicht sie angehören. Aber damit, dass die Evidenzbasis abhanden kommt, scheint mir die Digitalisierung eher wenig zu tun zu haben.
Ergänzend zitiert Weyh Christoph Kucklick:
„Viele wissenschaftliche Überzeugungen halten höher auflösenden Daten nicht stand. So wird es auch mit unserem Verständnis der eigenen Gesellschaft gehen.“
Das ist nicht das gleiche Thema wie die Frage nach der Evidenzbasis. Erfahrungen, die man gemacht hat sind nicht das selbe wie Daten, auf die man schaut. Das hält Weyh nicht auseinander. Bei den Daten ist es natürlich nicht egal, wie hoch auflösend sie sind. Und daran ändert die Digitalisierung in der Tat einiges.
Staat und Souverän
Das Verständnis der eigenen Gesellschaft berührt die Kantsche Frage „Was soll ich tun?“
Hier ist die Rede von der Staatsform. Die Demokratie hat den Souverän zwar entthront, aber nicht abgeschafft.
„Er verkörpert das Prinzip: „Einer handelt und entscheidet für alle“. Wo der König gestürzt ist, wird er aus der Wahlstimmenmehrheit rekonstruiert und durch Stellvertreter gespielt. Es gilt dann: 'Das Wahlvolk ist der Souverän', was unsinnig ist, da das Wahlvolk weder handeln noch entscheiden kann. Die Gesetzgebung funktioniert im einen wie im anderen Modell willkürlich: Der Souverän oder seine Darsteller folgen einer abstrakten, letztlich religiös abgeleiteten Idee davon, was für die Menschen richtig und falsch sei. Diese Idee wird in konkrete Vorschriften gegossen. Selbstredend kann die Idee dramatisch verkehrt sein, und schon im Normalfall hinkt sie gesellschaftlichen Veränderungen hinterher. Recht und Politik sind systematisch out of date. „Es scheint ein geschichtliches Gesetz der Jurisprudenz zu sein, dass ihr die Rechtswirklichkeit dauernd entgleitet, dass, wenn sie endlich ein Problem dogmatisch perfekt in den Griff bekommen hat, es schon nicht mehr aktuell ist“, konstatierte schon 1985 der Rechtsphilosoph Peter Noll.“
Diese Einschätzung würde ich weitgehend teilen. Aber ist das schon eine Kritik? Wenn Politik und Recht langsamer sind als die Realitäten, auf die sie reagieren, sagt das ja zunächst nur, dass sie zuhören, sich einlassen und nachdenken und dass dabei Zeit vergeht. Die Chance, schneller als die Realität zu sein, haben eigentlich nur Ideologien, die die Dinge kennen, bevor sie passieren. Die Ebene, auf der Kritik fällig wird und nicht nur ein wohlfeiles großes Maul, muss da schon genauer hinsehen.
Bahnung ersetzt Planung eben nicht
Weyhs zentrale Diagnose:
„Die Zweite Aufklärung nun schafft alle motiv- und meinungsgetriebene Politik ab, indem sie ausschließlich konkrete Handlungen bewertet. Diese kann sie aus den ubiquitären Datenspuren auslesen und erfährt damit, wie die Gesellschaft jenseits abstrakter Annahmen wirklich funktioniert. Für den Einzelnen besteht demokratische Mitwirkung nicht darin, eine beinflussbare und instabile politische Meinung abzugeben, sondern darin, der Gesellschaft seine Datenspuren zur Verfügung zu stellen. Bahnung ersetzt Planung.“
Auch das muss dringend reflektiert werden. Wenn die Datenspuren des einen häufig ins Gourmetrestaurant führen und die des anderen ausschließlich zu McDonald, dann sagt das etwas. Und es stimmt, dass solche Datenspuren personalisiert erst durch die Digitalisierung vorliegen, obwohl derjenige, der sie hinterlassen hat, diesen Weg schon länger geht. Warum jetzt Bahnung statt Planung? Die Bahn hat er schon länger gezogen, und daraufhin geplant (mit Blick auf Umsätze) wurde ebenfalls schon länger, wenn auch ohne Rückhalt bei gleich deutlichen Datenspuren. Die Planungsmöglichkeiten werden durch die neue Datendichte einfach nur besser. Natürlich weiß der Handel jetzt um so besser, wie er den Kunden erreicht. Bahnung ersetzt nicht Planung, sondern ermöglicht subtilere Planung, wo geplant relevantere Daten verfügbar sind.
„Mit der Auswertung dieser Trampelpfade im digitalen Universum macht sich Demokratie ehrlich, nämlich zu einem System, in dem Realität auf die Politik einwirkt und nicht - wie jahrhundertelang zuvor – Politik die Realität in die Geiselhaft ideologischer Vorstellungen der jeweils Regierenden nimmt.“
Es gibt bestimmte Ausdrücke, die mich sofort hellhörig machen, weil ich sie als Alarmsignale höre, die mir sagen wollen, dass jemand gerade das Denken eingestellt hat und statt dessen den Kotau vor etwas macht, das ihm selbst entgeht. Ein Beispiel ist die deplatzierte Verwendung des Wortes 'genau'. Sie: „Wie findest du denn Paris im Herbst? Ich weiß nicht, ich finds irgendwie ganz wunderschön...“ Er: „Genau!“ Solch eine Floskel ist für mich der Ausdruck 'sich ehrlich machen', den Weyh hier verwendet. Ich kenne nur 'ehrlich sein'. Wenn jemand sich ehrlich 'macht', ist für mein Gefühl irgendein illegitimer Trick dabei oder er ist Sozialdemokrat, und da hat der Ausdruck gerade Konjunktur und man meint damit weiter gar nichts und denkt auch gerade nicht.
Aber zurück zum Inhalt von Weyhs Aussage. Wiederholen wir sie noch einmal:
„Mit der Auswertung dieser Trampelpfade im digitalen Universum macht sich Demokratie ehrlich, nämlich zu einem System, in dem Realität auf die Politik einwirkt und nicht - wie jahrhundertelang zuvor – Politik die Realität in die Geiselhaft ideologischer Vorstellungen der jeweils Regierenden nimmt.“
Das wäre ja wirklich ein Zeitenwechsel – Es kommt zur Unio mystika der Politik mit der Wirklichkeit, ganz ideologiefrei … Weyh ganz begeistert: „Nun geht die Macht von Repräsentanten auf Datengeber über. Die gesamte Schicht der Repräsentanten verliert ihre Funktion.“ (… ist schon klar. Weyh ist nicht begeistert. Wir müssen die feine Ironie verstehen. Er spielt bloß eine Denkmöglichkeit durch. Aber helfen wir ihm beim Durchdenken, denn wir werden sehen, am Ende läuft es bei ihm auf eine schwarz-weiss Alternative ohne Grautöne dazwischen heraus. Der Ironiker lächelt am Ende nur noch deshalb, weil ihm unmöglich geworden ist, Position zu beziehen. Und das ist zu schade, als dass wir ihm das einfach durchgehen lassen könnten.)
Die Wirklichkeit interpretiert sich nicht selbst
Weyh verspricht sich vom annoncierten Zeitenwechsel eine Menge, und er verwechselt dabei erneut etwas: „
Zudem ist mit der Entwicklung eine ähnlich radikale Entmachtung verbunden wie die der Monarchen während der Ersten Aufklärung. Nun geht die Macht von Repräsentanten auf Datengeber über. Die gesamte Schicht der Repräsentanten verliert ihre Funktion.“
Warum sollte die Macht übergehen auf die, die die Daten geben und nicht auf die, die sie nehmen und auswerten? Und welcher Grund soll plötzlich wirksam sein, dass das ab jetzt ideologiefrei und ohne Gründe passiert, die auf Seiten der Steuernden und nicht der Gesteuerten liegen? Der Gedanke, der bei Weyh dahintersteht: Die Daten sind die Wirklichkeit, denn sie sind die zwar beliebig kopierbaren, aber dennoch originalen Spuren der Datengeber. Die Wirklichkeit interpretiert sich selbst und braucht dazu nicht mehr die Vermittlung von Repräsentanten. Die Repräsentanten, die politischen Entscheider, die es ja nach wie vor geben wird, können nichts anderes tun, als das Urteil der Wirklichkeit über sich selbst zu vollstrecken. Jede Verfälschung würde sofort auffallen und in Protest gehen.
Aber wer sollte da protestieren? Doch wohl genau die Menschen, von denen Weyh eben noch gesagt hat, es gebe für sie „ nur noch Wahrheitsvereinbarungen mit mäßiger gesellschaftlicher Bindungskraft: Wem eine Vereinbarung nicht passt, der wählt eine andere.“
Würde das stimmen und wäre das alles, dann wäre viel eher eine Kakophonie des Protests zu erwarten, die einigermaßen unabhängig davon ist, ob Regierungen richtig oder falsch entscheiden und ob man sich über die Kriterien für richtig oder falsch einig ist oder nicht. Die gemeinsame gesellschaftliche Erfahrungen, wegen der Regierungshandeln in Protest geht, kann sich nur trotz Digitalisierung und nicht ermöglicht durch Digitalisierung ergeben.
Machtfrage als reine Servicefragen?
Hier wird Weyh allerdings ganz am Ende seiner Ausführungen etwas behaupten, dass dem Fass den Boden ausschlägt: Machtfragen werden in spätestens 50 Jahren endgültig zu Servicefragen geworden sein. Das wäre sozusagen die Welt als Wellness-Hotel, als Konsum-Tempel für alle. Jedermann, ob arm oder reich, beantwortet durch seine digitalen Spuren, wie seine Befindlichkeit gerade so ist, vom Blutdruck bis zu seinen Vorstellungsinhalten und bekommt permanent Rückmeldungen dazu. Teilweise werden das selbstverstärkende Rückmeldungen aus sozialen Medien sein, die er frei aufsucht, teilweise werden das reichweitenstarke Ideologien sein. Die heute bei uns verbreitetste ist die Ansprache als Kunde. Aber was bitte spricht dafür, dass sich in 50 Jahren Machtfragen endgültig in Servicefragen verwandelt haben sollen und dass es falls es darauf hinauslaufen sollte, etwas anderes ist als eine ubiquitäre Ideologie? Heute bereits werden selbst der hinterletzte Burger und die mieseste Sozialleistung als Hochgenuss verkauft. Und zumindest was den Burger angeht, wird der sogar mit Genuß gegessen. Andere haben schließlich gar keinen – anderswo! Aber auch dabei ist Digitalisierung nur das Mittel für die Verbreitung von Ideologien und für die Fütterung von Phantasien und nicht deren Erzeuger. Auch hier gilt nicht 'It from Bit'.
Wesentlich naheliegender scheinen mir Weyhs Ansichten zur zukünftigen Ahndungsmacht des Rechts zu sein. Die Instanz des Gewissens verliert ihren Rang, sobald
„jede Fingerbewegung registriert wird und sich aus der groben Steuerungsmacht des Rechts eine immer feinere Steuerungsmacht des Wissens entwickelt. (…) Plötzlich befinden sich auch Rechtsverstoß und Ahndungsmacht des Rechts im selben Raum. Bestimmte Delikte wie Steuerhinterziehung sind zum Beispiel 2050 a priori nicht mehr möglich, weil Geldflüsse von Regelungsalgorithmen so gesteuert werden, dass der Staat immer seinen Anteil erhält. Doch auch wer im Transportsystem – im selbstgelenkten Auto wie im öffentlichen Verkehrsmittel -gegen die Norm verstößt, wird künftig nicht einfach eine Geldbuße bezahlen oder den Führerschein verlieren – heute eine lachhafte Strafe – sondern sein Fahrvermögen an sich einbüßen: Alle Fahrzeuge auf der Welt, die er zu starten versucht, reagieren nicht mehr auf ihn. Kein öffentliches Verkehrssystem lässt ihn noch seine Schranken passieren.“
Gerecht wie noch nie
Wenn die Exekutive 2050 umfassende digitale Kontrolle über so gut wie alles besitzt, erhält sie eine gewaltige Ahndungsmacht, die sie heute nicht annähernd hat und kann sehr viel präziser sanktionieren. Übertretungen ließen sich gezielt mit Zugangs- und Nutzungssperren bestrafen.
Weyh: „Anders als früher verbinden sich diese Sanktionen auch inhaltlich direkt mit den Verstößen. Ihr Gerechtigkeitsbegriff siedelt viel näher an der Urdefinition von Gerechtigkeit – jedem das Seine – als das grobe Muster von Körper- und Geldstrafen der letzten 2000 Jahre.“
„Sollte dies 2050 so eingetroffen sein, lebten die Menschen wirklich in der Hölle. Vielleicht. Aber keiner würde es merken. Ein schleichender Normenwandel ist der perfekte Normenwandel – und übrigens nicht illegitim.“
Das
Ideal der Gerechtigkeit „jedem das seine“ kommt also
möglicherweise in Reichweite, wenn die kleinste Verfehlung
auffällt und entsprechend dosiert gestraft werden kann. Weyh
behauptet, dass Kontrolle der Preis ist, den wir ganz grundsätzlich
für Wissen zu zahlen haben. Wissen ist grundsätzlich
Kontrolle. Jedermann werde zukünftig „seine Freiheit in
Zahlung (geben), um durch die Registratur aller Handlungen
politisch wirksam zu sein“. Damit würden jedoch heutige
Freiheitsvorstellungen entschieden verletzt. Die digitale Zukunft
könne die Hölle werden.
Ich sagte schon, dass mir
unplausibel scheint, dass der Einzelne durch das Hinterlassen
lückenloser Datenspuren politisch wirksamer wird. Wirksamkeit
heißt nicht Entscheidungsmacht. Dass heute die meisten Menschen
einer Lohnarbeit nachgehen, ist wirtschaftlich, gesellschaftlich und
politisch hoch wirksam. Aber damit beginnt der Kampf um Mitbestimmung
und ist nicht mit dem puren Faktum der Wirkung von Berufstätigkeit
schon entschieden. Das gleiche dürfte für die Menschen als
Datenproduzenten gelten.
Freiheit in Pension geschickt
Der Freiheitsbegriff der Aufklärung besagt, dass der einzelne Mensch grundsätzlich so handeln will, wie er es für richtig hält, ob ihm das zugestanden wird oder nicht. Wird ihm das nicht zugestanden, lebt er in Unfreiheit, aber eben nur deshalb, weil er frei sein will. Könnte er seinen Willen, nach eigenen Maßstäben zu leben vergessen, könnte ihn keine Beschränkung unfrei machen. Der Grundkonflikt des Freiheitsbegriffs ist der zwischen der eigenen Freiheit und der Freiheit der Anderen.
Der Freiheitsbegriff der Aufklärung, also unser heutiger Freiheitsbegriff, ist kein asozialer Egoismus. Er geht nicht davon aus, dass Menschen um so freier sind, je seltener sie bei Übertretungen erwischt werden. Er ist auch kein platter Liberalismus, der möglichst viele einengende Vorschriften abgeschafft sehen möchte, ganz egal, wem sie dienen.
Kants Lösung für die soziale Dimension der Freiheit ist bekanntlich das Gewissen und der 'gute Wille', den Anderen als Gleichen zu betrachten und nach gemeinsamen Regeln zu handeln, die unter anderem auch klarstellen, wann man wie in der bürgerlichen Konkurrenz dem Anderen schaden darf. Der kategorische Imperativ ist und war nie harmlos und hatte nie viel mit Empathie zu tun. Die Autonomie des freien Menschen für Kant besteht darin, dass er aus sich heraus zu dieser Abwägung fähig ist und das unterschiedliche vernünftige Menschen zum selben Ergebnis kommen, was richtig und was falsch ist. Das aber ist schon sehr viel länger schwierig, als es Computer gibt und hat andere Ursachen als die Digitalisierung. Interessant, wenn man Weyhs Überlegung weiterspinnt, ist nicht so sehr, ob Digitalisierung unfrei macht, das wird nämlich wahrscheinlich nicht passieren, sondern ob die Freiheit im Zuge der Digitalisierung sozusagen in Pension geschickt wird. Das würde heißen: Sie hört nicht auf, und sie wird auch nicht beschränkt, aber sie wird einfach nicht mehr benötigt, um den Einzelnen zur Arbeit zu motivieren und ihn gleichzeitig Teil der Gemeinschaft sein zu lassen. Das könnte man etwa mit unserer archaischen Fresssucht vergleichen, die in Notzeiten hilft, uns die Speckschicht anzufressen, mit der wir durch den Winter kommen, die uns unter heutigen zivilisatorischen Bedingungen aber einfach nur noch übergewichtig und Zuckerkrank macht.
Es ging jedenfalls bei der Idee der Freiheit nie darum, wie oft jemand bei Übertretungen erwischt wird. Wir werden nicht unfreier, wenn wir öfter erwischt werden, sondern dann, wenn die Regeln nichts taugen. Es ging sehr wohl um verinnerte, Kant hätte gesagt von rationalen Normen, um das eben, was der Einzelne für richtig hält und was nicht. Weyh schaut sich das von außen an und nennt es schleichenden Normenwandel. Zu erinnern ist daran, dass der moderne Freiheitsbegriff höchstselbst aus einem Normenwandel hervorgegangen ist, der die mittelalterlichen Pflichten und Bindungen aufgelöst hat. Freiheit ist sozusagen sozialgeschichtlich ein anderes Wort für die Bewältigung eines radikalen Normenwandels. Die Idee der Freiheit war, wenn ich das richtig sehe, sozial- und geistesgeschichtlich niemals eine Idee, die die Menschen atomisieren und trennen sollte, sondern eine, die sie ganz im Gegenteil in der Welt beginnender Industrialisierung vereinigen sollte, es war eine Idee, die helfen sollte, ihre reale Atomisierung zu bewältigen. Freiheit war eine gemeinsame Forderung. Man erinnert sich an das Saint Antoine Viertel und die Bastille.
Insofern trifft Weyhs Beschreibung zu:
„Schon nach einer Generation wird die Unterwerfung unter eine neue Technik als Sieg des Menschen über dieselbe empfunden. So belächelt der Mensch der Zweiten Aufklärung die Überwachungsängste der Menschen der Ersten Aufklärung nur noch.“
Aber es ist das Lächeln von Freien.
Keine ewige Ruhe nach dem Shitstorm
Seiner Meinung nach erledigen sich durch den Normenwandel viele Ängste von selbst.
„Ein sozialer Tod findet nicht mehr statt. Ächtungsmechanismen, die darauf beruhen, dass in Einzelfällen „schmutzige Geheimnisse“ gelüftet werden, schleifen sich ab. Auch setzt auf breiter Front eine Kommentierungs- und Suchmüdigkeit ein: Wo jeder über den anderen alles wissen kann, will keiner mehr etwas wissen. Wo jeder alles sagen darf, verfällt er ins Schweigen. Dauerskandalisierungen und Hypererregung im Shitstorm erweisen sich als typische, zeitlich begrenzte Phänomene der Übergangszeit.“
Da wäre ich mir nicht ganz so sicher. Wie oben schon gesagt: die Phantasie von Gewissheit gedeiht am besten, wenn man wegschaut. Aber genau das ist auch der beste Nährboden für Verschwörungstheorien und Ausgrenzungsbedürfnisse. Kaum etwas zwing mehr dazu, sich ganz schnell und um jeden Preis in die Obhut von Gruppen zu begeben als das Gruseln im Halbdunkel der Interesselosigkeit. Wer nicht hinschaut, sieht früher oder später Gespenster. Dieser Sachverhalt wird durch die Digitalisierung eher stärker als schwächer, denn die Digitalisierung bietet auch dafür starke Instrumente. Ich würde eher mit wiederholten Phasen heftigster Übererregung rechnen statt damit, dass sich das Problem von selbst erledigt. Es wird politischen und rechtlichen Regelungsbedarf geben.
Unmittelbares Feedback
Weyh abschließendes Argument:
„Der Vorteil der Zweiten Aufklärung liegt darin, dass man ein unmittelbares Feedback erhält. Während man früher einen moralischen Stellungssinn benötigte – und ihn oft genug verkümmern ließ –, erhält man nun eine Stellungsmeldung, die einen unmittelbar über eigene Fehlstellungen in der Gesellschaft informiert. Und jede Störung im Gefüge meldete sich als Störung im Individuum zurück.“
Aber stellt das nicht einfach nur das 'jeder weiß alles über jeden' wieder her, dass für kleine Dorfgemeinschaften typisch war und das gerade nicht den „sozialen Tod“ unmöglich gemacht hat, das z.B. ganz im Gegenteil so manchen Homosexuellen in die Anonymität des städtischen Lebens vertrieb? Nicht das Dorf ist neu, sondern seine Ausdehnung über den gesamten Globus. Freiheitsbeschränkend wäre, dass man ihm nicht mehr entfliehen könnte außer in verschlüsselte Chatrooms im Internet. Wir müssten gleichsam a la longue ohne Ausländer auskommen, ohne ein Draußen, ohne Abgrenzungsfolie, ohne Kriegsgeschrei nach außen, und all das tatsächlich nur deshalb, weil bestimmte Techniken sich weiterentwickeln wie KI, Vernetzung und Datenspeicherung?
Das wäre in der Tat eine sagenhafte Erziehungsleistung durch automatisiertes gezieltes Strafen, plattester Behaviorismus, Reiz, Reaktion, Verstärkung … bei schleichender Gewöhnung. Das erinnert an „Walden two“, an Skinners „Vision einer besseren Gesellschaftsform“ von 1948, als B. F. Skinner, Psychologie-Professor in Harvard und Vater der Verhaltenspsychologie, die Welt in Romanform von der Methode der Verhaltensverstärkung und des Programmierten Lernens („Behavioural Engineering“) überzeugen wollte. Skinner schreibt dort im Vorwort einer späteren Ausgabe:
„Die Welt begann sich Problemen in einer völlig neuen Größenordnung zu stellen - der Erschöpfung der Ressourcen, der Verschmutzung der Umwelt, der Überbevölkerung und der Möglichkeit eines nuklearen Holocaust, um nur vier zu nennen. Physikalische und biologische Technologien könnten natürlich helfen. Wir könnten neue Energiequellen finden und die, die wir hatten, besser nutzen. Die Welt könnte sich ernähren, indem sie nahrhafteres Getreide anbaut und Getreide anstatt Fleisch isst. Zuverlässigere Verhütungsmethoden könnten die Bevölkerung in Grenzen halten. Uneinnehmbare Verteidigungsanlagen könnten einen Atomkrieg unmöglich machen. Aber das würde nur passieren, wenn sich das menschliche Verhalten änderte und wie es geändert werden könnte, war noch eine unbeantwortete Frage.“
Gedacht ist an eine Revolution top-down, chinesisch sozusagen und wenig amerikanisch. Und wahrscheinlich ist das der Grund, warum der Roman schnell wieder in der Versenkung verschwand.
ewig leben?
Als Antwort auf Kants dritte Frage. „Was darf ich hoffen?“ schlägt Weyh vor:
„Ich darf hoffen, unsterblich zu werden.“
Damit läßt er sich offenbar von einem Phantasma antreiben, auf das näher einzugehen unseren Rahmen sprengt. Wenn er über die Machbarkeit dieser Phantasie nachdenkt, macht er allerdings wieder den gleichen Denkfehler wie oben, er verwechselt auch hier noch einmal Wechselwirkung und Information. Auch diesmal wird es schon auf physikalischen Gründen nicht klappen, was der Menschheit von Anfang an verwehrt war. Wie er sich das vorstellt und mit ihm so mancher Publizist des Silicon Valley. Das Leben zu verlängern ist ein wesentlich vielversprechenderes Bemühen. Den Geist eines sterbenden Menschen in eine Maschine zu portieren und als Computer wieder auferstehen zu lassen, ist meines Erachtens physikalisch unmöglich. Das Begehren nach Unsterblichkeit zieht sich durch die Geschichte des Abendlands und ist ein Thema ganz eigener Art. Es ist offensichtlich dabei, durch die Digitalisierung neue Facetten zu bekommen.
Schlussakkord
Am Ende bleibt reinste Verwirrung.
Der Mensch „diffundiert in eine schwer fassbare Entität hinein, in ein vielleicht beglückendes Wir, das ohne Ichs auskommt. Damit entsteht, Ironie der Geschichte, ein echter kollektiver Souverän und kein bloß metaphorischer mehr wie in der parlamentarischen Demokratie.“
Was soll das sein, das 'beglückende Wir'? Siamesische Viellinge? Eine Verschmelzungsphantasie, Woodstock, nur ohne Regen? Drogenrausch oder vielleicht reicht wie in Bayern auch genügend Bier? Oder ist trivialer- und richtigerweise das gemeint, was Menschen immer schon sind, soziale Wesen, die die Verhältnisse, die sich zwischen ihnen ergeben haben und all den Schrott, der sich dabei ergeben hat, im Licht neuer technischen und kommunikativer Möglichkeiten neu bewerten und umgestalten?
Letztlich sieht das Weyh auch:
„Dass ums Verhältnis zwischen Einzelnem und Gruppe gerungen werden muss, ist nichts Neues. Im Gegenteil, es ist der Urgrund von Politik, ja von Zivilisation überhaupt. Die Registratur der Zweiten Aufklärung fügt dem nichts hinzu. Sie sagt nur: Ihr müsst auch hier wieder Maßverhältnisse finden, die einer aufgeklärten Zivilisation würdig sind.“
Weyh stimmt Jürgen Schmidhubers Empfehlung von Gelassenheit zu:
„Umarmen wir das Unvermeidliche!“ Oder schalten wir den Strom ab.“
Ich befürchte, dass Algorithmen, sie mögen so intelligent wie nur möglich werden, dabei für uns nicht das mindeste von allein erledigen werden. Deshalb ist beides falsch, sowohl, etwas zu umarmen weil es angeblich unvermeidlich ist oder einfach den Strom abzuschalten.
Anmerkungen:
1 Der Link zur Radiosendung zum Nachhören
Und hier Weyhs Text zum Nachlesen..
2 Nukleotide treten nicht nur als Monophosphate (NMP) verknüpft in den informationstragenden Makromolekülen von Nukleinsäuren auf. Sie tragen daneben auch verschiedene weitere Funktionen für die Regulation von Lebensvorgängen in Zellen. So spielen Triphosphate (NTP) wie Adenosintriphosphat (ATP) eine zentrale Rolle beim Energietransfer zwischen Stoffwechselwegen, als Cofaktor für die Aktivität von Enzymen, für den Transport durch Motorproteine oder die Kontraktion von Muskelzellen. Guanosintriphosphat (GTP) bindende (G-)Proteine übermitteln Signale von Membranrezeptoren, das cyclische Adenosinmonophosphat (cAMP) ist ein wichtiger intrazellulärer Botenstoff.
3 Vgl.: vgl. Michaelo Seemann, Das neue Spiel, 2014
4 Vgl.: vgl. Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 2018
5 Vgl.: Maturana, Humberto R.: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit: ausgew. Arbeiten zur biolog. Epistemologie / Humberto R. Maturana. Autoris.dt. Fassung von Wolfram K. Köck. - 2., durchges. Aufl.. - Braunschweig; Wiesbaden, 1985., S. 160 ff.
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